Entführt, abgeschoben, vertrieben, wiedervereint

“Ich floh aus meinem Land und ließ meine Familie zurück, weil ich bedroht wurde. Ich bat in meinem Land und in den Vereinigten Staaten um Hilfe, aber niemand hörte mich. Ich wurde abgeschoben.“

Auf der Suche nach Sicherheit ging Manuel 3.500 km zu Fuß, nur um schließlich nach Honduras zurückgeschickt zu werden. Nun baut er mithilfe von NRC für sich und seine Familie in einem sichereren Teil des Landes ein neues Leben auf.

 

Entführt an Weihnachten

Es war der Tag vor Weihnachten und es war kein Geld für das Abendessen da. Manuel*, 35, arbeitsloser Tischler und dreifacher Vater, ging hinaus, um in seiner Heimatstadt San Pedro Sula im Norden Honduras Donuts zu verkaufen. Er stand früh am Morgen auf, machte die Donuts und verabschiedete sich von seiner Frau. Sie wusste nicht, dass er ihr gemeinsames Haus gerade zum letzten Mal verließ.

Auf der Straße wurde Manuel von einer der kriminellen Banden entführt, die sein Viertel kontrollierten. Er wurde von bewaffneten Männern mit verdeckten Gesichtern angehalten. „Ich konnte das Erpressungsgeld nicht bezahlen, das sie von mir verlangten“, sagt er. „Also schlugen und entführten sie mich. Einer von ihnen schrie: ‚Niemand macht sich über uns lustig!’“

Entweder bezahlt man das Erpressungsgeld oder man wird getötet.
Manuel, 35, aus Honduras

Die Drohungen, die er in den vorangegangenen Monaten erhalten hatte, endeten mit dem Verlust seiner Freiheit. Glücklicherweise gelang ihm die Flucht. Er schaffte es, sich aus den Fesseln zu befreien, als die Wachen nicht hinsahen, und ging in die Berge. „Entweder bezahlt man das Erpressungsgeld oder man wird getötet“, erklärt er.

Manuel bat bei den honduranischen Behörden um Hilfe, aber niemand hörte ihm zu. Er wollte seine Familie nicht gefährden, konnte die Forderungen der Bande jedoch nicht bezahlen. Manuel entschloss sich, seine Familie zu verlassen. Er verließ das Land, ohne es seiner Frau und seinen Kindern zu sagen.

 

Fliehen oder den Preis bezahlen

Kriminelle Banden kontrollieren die städtischen Gebiete in Honduras durch Erpressung, Drohungen und Ermordungen. Während der Nachtstunden gibt es Zeitpläne, die für Erwachsene und ihre Familien die Nutzung öffentlicher Plätze regeln. Die Einwohner müssen sich an diese Regeln und Vorschriften halten. Lkw-Fahrer zum Beispiel, die in ein von einer kriminellen Bande kontrolliertes Gebiet fahren, werden streng überwacht und erpresst.

Honduras hat eine der höchsten Mordraten der Welt. Wer die Erpressungsforderungen nicht erfüllen kann, hat zwei Möglichkeiten: Fliehen oder den Preis bezahlen.

Morddrohungen und Erpressungen in Zusammenhang mit Armut führen dazu, dass immer mehr Menschen ihre Heimat verlassen. In den Regionen, die am stärksten von der Gewalt betroffen sind, sind Menschen wie Manuel oft gezwungen, auf der Suche nach Sicherheit innerhalb des Landes umzuziehen oder sich außer Landes zu begeben.

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In diesem Video erzählt Manuel von seinen Schwierigkeiten, Honduras zu verlassen, und der Hilfe, die er von NRC erhalten hat.

 

Eine Reise ohne Ziel

Manuel gelang es zu fliehen. Nur eins wusste er mit Sicherheit: Er konnte nicht zu seiner Familie zurückkehren.

Allein, ohne Essen, ohne Geld und ohne konkretes Ziel, machte er sich zu Fuß auf den Weg, um in einem anderen Land Schutz zu suchen – eine Reise, die über zehn Monate dauern sollte.

Zuerst kam Manuel in Guatemala an, in der Hoffnung auf einen Neuanfang und eine Arbeit. Sein Ziel war es, Geld zu sparen und seine Familie irgendwie aus dem Viertel herauszuholen, in dem sie lebten. Er erinnert sich: „Ich arbeitete für 100 Quetzal [ca. 14 Euro] die Woche, aber es lief nicht gut und ich wurde betrogen.“ Die Hoffnung in Guatemala schwand schnell.

Ich wusste, ich musste da raus und meine Kinder retten.
Rocio, Manuels Frau

Seine Familie wurde zur Flucht gezwungen

Einen Monat nach seiner Entführung gelang es Manuel, mit seiner Frau Rocio* Kontakt aufzunehmen. „Als wir erfuhren, dass er lebte, wusste ich, ich musste da raus und meine Kinder retten. Er war nicht mehr da und die Erpressungen hörten nicht auf“, erklärt sie.

Manuel* mit seiner Frau Rocio*. Einen Monat nach der Entführung nahm Manuel Kontakt zu seiner Familie auf. „Als wir erfuhren, dass er lebte, wusste ich, ich musste da raus und meine Kinder retten“, sagt Rocio. Foto: Up Studio/NRC

 

So traf Manuels Familie die schwere Entscheidung, das Haus, das bis zu diesem Zeitpunkt ihr Zuhause gewesen war, zu verlassen. Sie mussten weg.

Rocio packte ein, was sie konnte, und machte sich mit ihren drei Kindern (11, 7 und 1 Jahre alt) auf den Weg. Sie flohen an einen abgelegenen Ort auf dem Land, weit weg von zu Hause. In den folgenden sechs Monaten lebten sie bei großzügigen Bekannten, die sie aufgenommen hatten. Rocio gelang es, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Sie fand in der Nähe eine Schule für sie und sie gingen jeden Tag 40 Minuten zu Fuß dorthin, um zu lernen.

Trotz der ernsten Lage greifen Familien in Honduras aufgrund des weitverbreiteten Misstrauens gegenüber öffentlichen Einrichtungen selten auf offizielle Schutzmechanismen zurück. Vertriebene Familien in Honduras berichten uns, dass der Gang zu den Behörden sogar Vergeltungsmaßnahmen durch die kriminellen Banden nach sich ziehen kann. Daher ziehen viele es vor, bei Verwandten oder Bekannten Unterstützung zu suchen. Vertreibung hinterlässt hier ein unsichtbares Zeichen.

Rocio versteckte sich hinter der Unsicherheit. Von Manuel hörte sie nichts. Nach sieben Monaten ohne Lebenszeichen gab sie die Hoffnung auf, ihn jemals wiederzusehen.

Wenn ich mit meiner Familie sterben muss, werde ich das tun.
Manuel

3.500 km Fußmarsch in die Abschiebung

Erschöpft kam Manuel in den Vereinigten Staaten an, wo er prompt festgenommen wurde. Er bat um internationalen Schutz, aber die Monate vergingen, ohne dass darauf reagiert wurde. Die Verzweiflung war unerträglich. Manuel, ein Mann, der nichts anderes wollte, als seine Familie zu beschützen, sagte dem Richter: „Wenn ich mit meiner Familie sterben muss, werde ich das tun.“ Ein paar Tage später wurde Manuel abgeschoben.

Nachdem er 240 Tage lang 3.500 Kilometer durch drei Länder gelaufen war, um Schutz zu suchen, bekam Manuel nichts anderes als ein Nonstop-Rückflugticket. Im November 2018 kam er wieder in Honduras an.

Orientierungslos, wie viele Abgeschobene, wusste Manuel nicht, was er tun oder wie er seine Familie finden sollte. In sein altes Haus konnte er nicht zurück.

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Dank der Finanzierung durch die Europäische Union und der Unterstützung von NRC haben Manuel und seine Familie jetzt einen sichereren Ort zum Leben. Sie wurden finanziell unterstützt, um ein Haus mieten und Lebensmittel kaufen zu können, und juristische Hilfe, um ihnen einen Neubeginn zu ermöglichen. Foto: Up Studio/NRC

Tränenreiches Wiedersehen

Dann aber wendete sich das Blatt. Manuel traf einen NRC-Mitarbeiter an einer Migrationsstelle, wo die Organisation ständig vor Ort ist, um die schutzbedürftigen Abgeschobenen zu identifizieren. Er bekam seiner Situation entsprechende Unterstützung. „Die erste Hilfe waren Worte“, erklärt er. „Ich war ziellos. Sie halfen mir mit einem Ticket, um meine Familie zu finden, und von dort aus begleiteten sie mich.“

Es quälte ihn, nicht zu wissen, wo seine Familie war. Aber es gelang ihm, mit einem alten Nachbarn Kontakt aufzunehmen, der ihm half, sie zu finden.

„Ich kam mitten in der Nacht an. Sie waren fassungslos. Meine jüngste Tochter erkannte mich nicht wieder. Aber meine Frau fiel mir um den Hals, weinte und dankte mir, dass ich am Leben war, denn sie hatten gedacht, ich sei schon längst tot.“

Mit einem Teil des Geldes, das er erhalten hat, reparierte Manuel seine Ausrüstung, um wieder als Tischler arbeiten zu können. Foto: Up Studio/NRC

 

Ein Zuhause, Arbeit und Sicherheit

Dank der Finanzierung durch die Europäische Union und der Unterstützung von NRC gelang es Manuel und seiner Familie, einen sichereren Ort zum Leben zu finden. Sie bekamen finanzielle Hilfe, um ein Haus zu mieten und Lebensmittel kaufen zu können. Sie erhielten auch juristische Unterstützung, um ihre Rechte in Honduras geltend machen und ihr Leben wieder aufbauen zu können.

Manuels Kinder gehen wieder zur Schule. Diesmal ist die Schule nur ein paar Straßen weiter.

„Ich kam, um meine Familie außer Landes zu bringen, aber mit der Hilfe, die ich bekommen habe, habe ich nun die Gewissheit, dass ich nicht allein bin“, sagt Manuel.

Mit einem Teil des Geldes, das er erhalten hat, reparierte Manuel seine Ausrüstung, um wieder als Tischler arbeiten zu können. Das Holz hat sein Leben neu geformt, so wie er das Holz neu formt, und seine Arbeit gibt der Familie nun die Stabilität, die sie so dringend brauchen.

 


*Namen aus Sicherheitsgründen geändert.